Die „Nikomachische Ethik“ gilt als die bedeutendste der drei unter dem Namen des Aristoteles überlieferten ethischen Schriften und ist die älteste wissenschaftliche Ethik Europas. Aristoteles schafft in der „Nikomachischen Ethik“ eine Grundlage für eine Diskussion, die heute noch von großer Bedeutung ist, beziehungsweise dessen Bedeutung heute exponentiell steigt. Aristoteles entwickelt in der Nikomachischen Ethik das Konzept der Eudaimonie als einem Kernbegriff der antiken Philosophie. Der Begriff geht auf das altgriechische „εὐδαιμονία“ zurück, das so viel bedeutet wie „von gutem Geist“. Gewöhnlich wird Eudaimonie einfach mit „Glück“ oder „Glückseligkeit“ übersetzt. Das ist in der klassischen Philologie und Philosophie umstritten, weshalb der Begriff häufig in der Fachliteratur nicht übersetzt wird.
Schon weit vor Aristoteles ist die Eudaimonie ein Basiskonzept in Literatur und Philosophie. Die Dichter Pindar, Hesiod, Euripides und Sophokles haben Eudaimonie mit unterschiedlichen Verständnissen eingesetzt. Sie verstehen Eudaimonie einmal als Besonnenheit, einmal als multiple Kombination aus Macht, Ehre, Wohlstand, Gesundheit und ein langes Leben – oder aber formulieren, dass kein einziger Mensch überhaupt glücklich sei und dass es sträflicher Hochmut sei, überhaupt umfassendes Glück zu erstreben.
Gute Seelen zeichnen sich durch Besonnenheit und Selbstdisziplin aus
Den antiken Philosophen, allen voran Platon (Schüler des Sokrates und Lehrer des Aristoteles), gilt die Eudaimonie als gewichtiges Thema, das ethisch recht hochkarätig belegt ist. So unterscheidet beispielsweise Platon zwischen dem erfreulichen Zustand Eudaimonie als hohem Wert und der Lust (hēdonḗ), die er als Gut niederen Ranges betrachtet. Mit Eudaimonie meint er das vollkommene, absolute Gute, das in der platonischen Werteordnung höchsten Rang einnimmt.
In seiner „Nikomachischen Ethik“ formuliert Aristoteles die Eudaimonie als das für einen Menschen höchste Gut. Das Endziel ist die Erlangung des eigentlichen Guten, das an der Spitze aller Güter steht. Somit besteht die Hauptaufgabe der philosophischen Ethik darin zu bestimmen, was das höchste Gut ist. Bei Aristoteles heißt es konkret: „Jede Technik und jede Methode, desgleichen jedes Handeln und jedes Vorhaben zielt, wie es scheint, auf irgendein Gut ab; deshalb hat man das Gute treffend als das bezeichnet, worauf alles abzielt.“ („Nikomachische Ethik“ I 1, 1094a)
Das Gute ist ein verbindendes, übergeordnetes Prinzip
Ethik stellt nach allgemeiner Auffassung Kriterien für gutes und schlechtes Handeln und für die Bewertung seiner Motive und Folgen auf und befasst sich mit den drei Fragen nach dem „höchsten Gut“, dem richtigen Handeln in bestimmten Situationen und der Freiheit des Willens. Gerade bei der Frage nach dem „höchsten Gut“ hilft eben Aristoteles mit seinem Eudaimonie-Konzept weiter: Das Gute ist ein verbindendes, übergeordnetes Prinzip, das sich nicht in Details verstrickt und auch nicht nur in Bruchstücken verstanden werden kann. Der, der wirklich gut sein will, muss dies als Globalziel anerkennen. Es reicht nicht aus, temporär gut zu sein. Das Gutsein ist der höhere Zweck und das Ziel der Existenz.
Was für Aristoteles äußerst wichtig ist: Aristoteles erkennt bestimmte Grundbedingungen an, um der Handlungsmaxime der dauerhaften guten Tat entsprechen zu können. Das Gute kann sich nur in echten Handlungen vollziehen, die wiederum von der Möglichkeit vorgegeben sind, die dafür notwendigen Mittel vorzuhalten. Freigebigkeit setzt den Besitz von Geldmitteln voraus: Eudaimonie, Glückseligkeit, wird um ihrer selbst willen erstrebt. Alle anderen Güter werden nur benötigt, um dieses Ziel zu erreichen. Damit ist Eudaimonie das vollkommene und selbstgenügsame Gut und das Endziel des Handelns und das „Erstrebenswerteste von allem, und zwar so, dass man ihm nichts mehr hinzufügen kann“ („Nikomachische Ethik“ I 5, 1097b). Aber es lässt sich nur dann erreichen, wenn die wirtschaftliche Basis abgesichert ist. Wer finanzielle Not leidet, kann sich dem Guten nicht mit voller Kraft zuwenden, da er um die eigene Existenz kämpfen muss.
Der Sinn des Lebens ist Eudaimonie
Aristoteles will nicht erklären, was den Menschen glücklich macht. Er fragt sich vielmehr, wie das Leben zu Eudaimonie führen kann. Das kann nur durch echte Handlungen gelingen, die das Gute fördern. Der Sinn des Lebens ist Eudaimonie. Diese kann nicht hedonistisch-individualistisch gelingen, sondern allein durch die Kultivierung einer sinnvollen, zweckgerichteten Existenz.
Das bietet einen interessanten Übergang zur Investmentlandschaft. Welchen Mehrwert kann Aristoteles dabei leisten? Nun, sieht man die Eudaimonie als das für einen Menschen höchste Gut an, erkennt man leicht den Bezug zum Impact Investing. Das bezeichnet bekanntlich eine Form des Investierens, die eine reale und messbare positive Wirkung für Mensch, Gesellschaft und Natur darstellt und den Anleger durch die Bereitstellung von Kapital zu einem höheren Ziel führt.
Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung
Oft wird in der Finanzwelt von ethisch-nachhaltiger Geldanlage, nachhaltigem, ökologischem und sozial verantwortlichem Investment gesprochen. Das bezieht sich dann wiederum stark auf die Maßgaben der Sustainable Development Goals (SDG, „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“). Mit diesen Kriterien werden die Bereiche definiert, in denen sich Anleger nachhaltig engagieren können. Die „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“ sind politische Zielsetzungen der Vereinten Nationen (UN), die weltweit der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene dienen sollen und damit eine dezidiert ethische Ebene besitzen. Nachhaltig können Investitionsprojekte aber vor allem nur dann sein, wenn sie auch finanziell sinnvoll und ertragreich sind, sodass sie sich langfristig wirtschaftlich durchsetzen.
Investoren können einen individuellen Glückszustand erreichen
Das gilt auch fürs Impact Investing: Es geht bei dieser Investmentphilosophie um nicht weniger als eine sinnvolle und zeitgemäße Form des Investierens, die nicht mehr nur die finanzielle Rendite für den Einzelnen zählt, sondern immer auch die positive und nachhaltige Wirkung für die Allgemeinheit – aber eben auch immer die marktübliche finanzielle Rendite Impact-Investoren sollen nicht schlechter gestellt sein als andere Kapitalanleger. Ethik und Investmenterfolg müssen folglich eine Einheit bilden, und das Impact Investing ist nicht rein unter dem Aspekt der ‚ethischen Rendite‘ zu betrachten. Das ist wichtig, um diese Anlagephilosophie wirklich zu verstehen.
Investoren, die sich bei ihrer Geldanlage auf übergeordnete Prinzipien wie dem Streben nach dem großen Guten (eben der Eudaimonie) konzentrieren, fördern damit ihre persönliche Ethik und ihre individuelle Entwicklung. Sie erreichen damit einen individuellen Glückszustand weit über dem alltäglichen Maß. Durch die Förderung eines übergeordneten sozialen und/oder ökologischen Zwecks führt eine auf das übergeordnete Glücksprinzip orientierte Investition im Sinne des Impact Investing zu einem Gefühl des Glücks und stellt die Eudaimonie im Sinne von Aristoteles‘ Tugendethik her.
Dr. Patrick Peters ist Professor für PR, Kommunikation und digitale Medien an der Allensbach Hochschule in Konstanz und befasst sich als Unternehmensberater (Klare Botschaften), Publizist und Wissenschaftler ausgiebig mit Ethik und Kommunikation. Er ist Chefredakteur des Impact Investing-Magazin. Der vorliegende Beitrag entstand auf Bais des Aufsatzes: „Aristoteles’ Nikomachische Ethik: Eine antike Grundlage des modernen Purpose-Gedankens“, in: Zeitschrift für Interdisziplinäre Ökonomische Forschung (2021), S. 20—29
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